〉 Rede Abitur Ketter
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
ich gratuliere Ihnen herzlich zur bestandenen Abiturprüfung.
In diesem Jahr wurden alle 99 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 13 zu den Abiturprüfungen zugelassen.
96 von diesen erlangten die allgemeine Hochschulreife, drei verlassen die Schule mit dem schulischen Teil der Fachhochschulreife.
Trotz der Widrigkeiten, denen Sie in diesem Jahr ausgesetzt waren und auf die ich im Verlauf meiner Rede noch eingehen werde, erreichten zehn Abiturientinnen und Abiturienten die Abiturnote 1,3 und besser, vier Abiturientinnen und Abiturienten gar die Traumnote 1,0.
Der Notendurchschnitt in diesem Jahr liegt bei 2,31.
Das mit Abstand beste Abiturergebnis der letzten Jahre!
„Abi 2020 – mit Abstand das beste“ oder „die Besten“, so lautet - nach meinen Informationen - auch Ihr Abiturspruch. Es freut mich, dass Sie mit der Doppeldeutigkeit dieser Aussage, Ihren Humor und Scharfsinn trotz Corona nicht verloren haben.
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, mit Ihnen verlässt der letzte G8-Jahrgang das Gymnasium Philippinum. Auf die Anforderungen an Schülerinnen und Schüler sowie an die Lehrkräfte im Zusammenhang mit der verkürzten Gymnasialzeit G8 wurde in vergangenen Abiturreden schon mehrfach Bezug genommen. Ich möchte dies hier und heute nicht noch einmal vertiefen. Nur so viel, gerade Sie als „G8er“ hatten in der Sekundarstufe I so manche Belastung und schwierige Situation zu meistern. Aber auch die gymnasiale Oberstufe war für viele kein leichter Weg. Umso mehr freuten Sie sich auf das Ende Ihrer Unterrichts- und Schulzeit. Und genau wie schon viele Jahrgänge vor Ihnen haben Sie in der Jahrgangsstufe 12 begonnen, Abi-Komitees zu gründen: für die Mottowoche, das Abi-Buch, den Abi-Gag, den Abi-Ball. Alles hätte so schön werden können… und dann kam das Corona-Virus. Höchst wahrscheinlich in der chinesischen Stadt Wuhan von einem Tier auf den Menschen übertragen, verbreitete es sich anschließend in unserer globalisierten Welt schnell über alle Kontinente. Das Virus erreichte Deutschland zu Beginn des Jahres und die Infektionen breiteten sich auch bei uns schnell aus. Und dann passierte etwas, was bis dahin niemand für möglich gehalten hätte: Die Schulen in Deutschland wurden geschlossen, um die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen und um die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler, der Lehrkräfte und ihrer Familien zu schützen.
Und so bleiben Sie uns nicht nur als der letzte G8-Jahrgang in Erinnerung, sondern auch als der Jahrgang des „Corona-Abiturs“.
Ich kann mich noch gut an die Pressekonferenz am 13. März erinnern, in der der Hessische Kultusminister die Aussetzung des Schulbetriebs ab 16. März bekannt gab.
Zu jedem anderen Zeitpunkt Ihrer Schulzeit hätte diese Mitteilung sicherlich Freude bei Ihnen ausgelöst, aber nicht unter diesen Bedingungen und zu diesem Zeitpunkt wenige Tage vor den schriftlichen Abiturprüfungen. In acht Jahren Gymnasialzeit haben Sie auf diese Prüfungen hingearbeitet und sich in den letzten Wochen und Monaten davor noch einmal intensiv vorbereitet. Und dies sollte jetzt alles umsonst sein? Nein, denn gleichzeitig mit den Schulschließungen wurde angekündigt, dass die schriftlichen Abiturprüfungen des Landesabiturs, deren Beginn am 18. März terminiert war, wie geplant durchgeführt werden sollten.
Richtig Freude darüber, dass die Prüfungen stattfinden sollten, konnte dennoch nicht aufkommen. Denn jedes Zusammentreffen mit anderen Menschen konnte die Ansteckung mit dem Corona-Virus und eine Erkrankung an Covid-19 bedeuten. Es herrschten Unsicherheit und Angst vor Ansteckung sowohl bei Ihnen und bei Ihren Eltern als auch bei den Lehrkräften und der Schulleitung.
Mich erreichten damals einige Anrufe und Emails von besorgten Schülern und Eltern. Aber was wäre die Alternative gewesen? Eine Verschiebung oder Absage der Abiturprüfungen, eine Abiturnote nur auf Basis der in der Qualifikationsphase erbrachten Leistungen? Das wäre möglich aber kein richtiges Abitur gewesen und hätte, so empfinde ich, immer einen Makel gehabt. Ich bin froh und Sie können es auch sein, dass die Abiturprüfungen - schriftlich und mündlich – wie geplant durchgeführt wurden und Sie wie die Jahrgänge vor Ihnen ein vollwertiges Abitur erlangt haben.
Das ist das Wichtigste heute und darauf können Sie stolz sein!
Die Freude ist dennoch getrübt, auch und gerade heute. Immer noch spüren wir die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Auch wenn es im Alltag manchmal so scheint, gibt es noch keine Normalität. Das Virus ist zwar in Weilburg, Hessen und Deutschland nicht mehr so präsent, aber es ist nicht weg. Die Ansteckungsgefahr ist weiterhin vorhanden. Es gelten immer noch Abstands- und Hygieneregeln. Diese sind auch der Grund, warum die Abiturientenverabschiedung nicht mit allen Abiturientinnen und Abiturienten gemeinsam, sondern in den Tutorengruppen und ohne Eltern stattfindet. Ich kann nachvollziehen, dass Sie gerne heute Ihre Eltern und Familienangehörige dabeigehabt hätten, um mit ihnen Ihren Abschluss der Schulzeit zu feiern. Genauso gerne hätten Ihre Eltern diesen Moment, wie vor acht Jahren die Sextaneraufnahme, miterlebt. Ich grüße daher Ihre Eltern aus der Ferne: Sehr geehrte Eltern, Sie können stolz auf Ihre Kinder sein. Feiern Sie die erfolgreich bestandene Abiturprüfung und damit das Ende der Schulzeit ausgiebig im privaten Familienkreis.
Verzichten mussten Sie und wir alle in den vergangenen Wochen und Monaten auf vieles. Sie als Abiturientinnen und Abiturienten auf die Mottowoche, Partys nach den schriftlichen Abiturprüfungen und den Abi-Gag. Auch der Abiturientenball wird nicht wie geplant am 3. Juli stattfinden.
Wir alle mussten uns zuletzt in Verzicht üben: keinen Kontakt zu Großeltern und Freunden, keine Kino- und Restaurantbesuche, keine Einkaufsbummel. Viele Dinge, die vor der Corona-Pandemie für uns als selbstverständlich erschienen, waren auf einmal nicht mehr möglich.
Am 14. März wurde dazu der Artikel „Nun muss meine Generation Verzicht lernen und Größe beweisen“ von Moritz Seyffarth, mit 26 Jahren ein Angehöriger Ihrer Altersgruppe, im Online-Portal der Tageszeitung „Die Welt“ veröffentlicht. In seinem Artikel schrieb Seyffarth:
„Beim Kampf gegen den Klimawandel hat die Jugend hohe Ansprüche an die Gesellschaft. Im Angesicht der Corona-Krise muss die junge Generation erstmals selbst drastischen Verzicht üben – und Solidarität beweisen. Es ist eine große Chance für unser Land.
Bis vor Kurzem forderten Zehntausende „Fridays for Future“-Anhänger, dass sich die Älteren einschränken sollen. Sie sollen verzichten, damit das Klima geschützt wird und junge Menschen wie ich in Zukunft noch gut leben können. Das sind hohe Ansprüche an all die Menschen, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet haben – und nun doch, bitte schön, Verzicht üben sollen.
Nun ist die Corona-Krise da – und eine ganze Generation kann beweisen, dass auch sie bereit ist zu verzichten, um die Alten und Schwachen, und damit die ganze Gesellschaft, zu schützen. Die Krise stellt ein ganzes Land vor extreme Herausforderungen.
Schon jetzt ist klar, dass das öffentliche Leben zum Erliegen kommen wird. Für viele junge Deutsche ist das eine Situation, die noch vor wenigen Wochen unvorstellbar gewesen ist. Die noch nie da war.
Wir sind in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten aufgewachsen. Wir konnten immer und überall hinreisen, treffen, wen wir wollten, und hatten in unserem Alltag de facto keine Einschränkungen.
Viele unserer Großeltern haben andere Zeiten erlebt. Und auch unsere Eltern sind teilweise hinter Mauern aufgewachsen. […]
Viele von uns werden das Virus körperlich wahrscheinlich gar nicht bemerken. Wir könnten also weitermachen wie bisher. Doch gerade jetzt müssen wir Verantwortung übernehmen – und dürfen nicht als Verbreiter des Virus fungieren. Das tun wir einerseits durch Verzicht. Kinos, Bars, Clubs oder Fitnessstudios sind tabu. […]
Es ist an der Zeit zu zeigen, dass auch wir bereit sind, Opfer zu bringen. Dass wir solidarisch sind. Es wird die Generationen in Deutschland wieder mehr zusammenschweißen. Das hilft dem ganzen Land – auch wenn die Krise überstanden ist.“
Auch für viele von Ihnen war und ist dieser Verzicht neu und ungewohnt.
Neben all den Kenntnissen und Fertigkeiten, die Sie im Laufe Ihrer Schulzeit erlangen durften oder mussten und die Schwerpunkte Ihrer Abiturprüfungen waren, mussten Sie sich zum Ende Ihrer Schulzeit dieser besonderen Prüfung stellen und Verzicht üben.
Aber dieser Verzicht hat auch positive Seiten: Mir haben Abiturientinnen und Abiturienten nach den mündlichen Abiturprüfungen mitgeteilt, dass sie durch die fehlende Ablenkung konzentrierter und intensiver lernen konnten. Vielleicht liegen auch darin die sehr guten Prüfungsergebnisse in diesem Jahr begründet.
Verzichten hilft, sich auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren: die eigene Gesundheit, die Familie, die Natur und Umwelt. Zu wissen, dass man auf Dinge verzichten kann, die vorher als selbstverständlich und unerlässlich galten, gibt auch Stärke. Der US-amerikanische Philosoph und Schriftsteller Henry David Thoreau (1817 – 1862) soll gesagt haben: „Ein Mann ist reich im Verhältnis zur Zahl der Dinge, auf die er verzichten kann.“
Und so liegt in jeder Krise auch eine Chance für die Zukunft. Sei es beim Klimaschutz, bei der Digitalisierung oder beim Blick jedes Einzelnen auf das, was wirklich wichtig in seinem Leben ist.
In einem Interview des Radiosenders hr-Info am 10. Juni 2020 äußerte sich der Zukunftsforscher Matthias Horx ähnlich. Er glaubt, dass die Corona-Krise nur das offen legen würde, was vorher schon faul gewesen sei und sie habe das Zeug, die Welt zum Besseren zu verändern. „Weniger Kreuzfahrten und Aprés-Ski-Partys, mehr Rücksicht aufeinander und die Natur.“ Horx sieht die Chance für einen neuen Generationenvertrag: Die Jüngeren hätten ihre Lebensweise in der Corona-Krise deutlich eingeschränkt, um die Gesundheit der Älteren zu schützen, und könnten nun von diesen umgekehrt ein klimafreundlicheres Verhalten einfordern. (Quelle: hr-Info, Das Interview, 10.06.2020, 19.35 Uhr)
Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, lassen die Schulzeit nun hinter sich. Sie beginnen bald Ihr Studium oder Ihre Berufsausbildung. Ich bin mir sicher, dass Sie mit Ihrem erworbenen Wissen und Kompetenzen, Ihren Fertigkeiten und Fähigkeiten auf die beruflichen und gesellschaftlichen Herausforderungen gut vorbereitet sind. Es liegt an Ihnen für einen neuen Generationenvertrag, so wie ihn Matthias Horx beschreibt, einzutreten.
Wir, das Kollegium und ich, wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.